…kennst du noch lange nicht Russland, sagte mir Olga, nach einem Smalltalk an einer Leningrader Bushaltestelle auf Französisch, die einzige Fremdsprache nämlich die Olga nahezu fließend beherrschte, da sie acht Jahre in Quebec gelebt habe. Es war nicht die
Scheidung die sie dazu bewog wieder in ihre Heimat zurück zu kehren, vielmehr das Bedürfnis wieder daheim zu sein, ganz gleich ob es im Jahr auf knappe 70 Sonnentage reicht. Wir waren mit dicker Kleidung und Wollmütze bedeckt, gleich wie alle anderen Passanten der Nevsky Prospekt (Nevskiy Avenue) an diesem herbstlichen Vormittag. Olga lobte noch den Tag, trotz Wind und Wolkendecke, denn es war trocken. Ihre Freude galt auch unserer Begegnung. Lang sei es her, sagte sie zu mir, dass sie letztmals einen Fremden begegnete und französisch reden durfte. So begleitete sie mich noch einige Häuserblocks weiter auf meinem Weg. Mit einer Umarmung und Kuss auf die Wange, was hier in Russland nur unter Familienmitglieder oder sehr enge Freunden vorkommt, verabschiedeten wir uns, und ich stieg in den Bus ein, der mich an die Eremitage bringen sollte.
Die Eremitage, dessen Haupgabaeude der ehemalige Winterpalast des Russischen Königshauses (Zaren und Kaiser) war, zählt zu den wichtigsten, und mit über 60 Tausend Exponate, größtes Kunstmuseum der Welt. Nicht Umsonst ist die sonst junge Stadt St Petersburg (errichtet Anfang des 18. Jahrhunderts) heute die Kulturhauptstadt der Russischen Föderation. Aber auch als sie den Namen Petrograd oder Leningrad (Grad heisst Stadt auf Slawisch) trug, war St Petersburg eine Vorzeigestadt im Europäischstem Stil, mit einer nahezu unendlichen Bautenpracht in Barock und Klassik die Seinesgleichen sucht. Im Auftrag der Zaren, angefangen bei Peter I, den Großen, Alexander der I und II, die Zarin Elisabeth und Katherina die Große, wurde die Stadt nach und nach aufgebaut, und die Baumeister und Kunsthandwerker aus ganz Europa gaben sich im russischem Hofe die Klinge in die Hand. Die Stadt war die wiege vieler Denker, Kuenstler und Schriftsteller. Gleichermaßen auch die Wiege der Bolschewiken, der Revolution und des heutigen Landesvater Vladimir Putin. St. Petersburg verstand sich auch als Tor zu Europa, strategisch in der Finnischen Bucht im Baltikum gelegen, und verstand sich als kultureller und wirtschaftlicher Bindeglied zw. Europa und Asien.
Zwei Tage lang, á 5 Std. am Tag, verbrachte ich in der Hermitage. Was ursprünglich als Zuflucht vor Kälte galt, weckte nun zunehmend mein innigstes Interesse. Was ich als jugendlicher kaum verstand und auf mich sehr abstrakt wirkte, rückt nun, schon über meiner Lebenshalbzeit, in sein richtiges Licht. Bin durchaus in der Malerei ein Leihe und kann zu den verschiedensten Maltechniken wenig sagen, doch die Historie, die Sichtweise des Künstlers und die zu vermittelnden Geschichte wirkt auf mich schlüssig zum Einen, und aufklärend zum Anderen.
Es ging aber nicht nur um Kunst bei meiner diesmaligen Reise als Backpacker. Wie immer stand im Vordergrund, mich an neuem zu überraschen, in der Geschichte stöbern und Menschen kennenlernen.
Das war am 3. Tag auch nicht schwierig. Auf der Suche, und nach einer kurzen Recherche nach einem urigen Restaurant, Bar oder Kneipe, wurde ich fündig. Nicht dass es in Sankt Petersburg an gastronomischen Objekte mangeln sollte, ganz im Gegenteil, es wimmelt nur noch so an exotischen, luxuriösen, trendige und geschmacksvolle Lokale. Aber ich suchte was besonderes. Etwas was schon schwieriger zu finden ist, in einer Stadt im ökonomischen Aufbruch.
кофе маяк (Kofe Mayak) oder „Kaffee Leuchtturm“ war genau das Richtige. Lenin- und Marx-Büsten teilten sich jeweils eine Fensterbank, die verstaubten Gardinen dahinter schützten deren Nacken vor Luftzug. An der Wand hingen beide, ebenfalls als bunte Stiche in einem hölzernen matten Rahmen. Doch ein hochglänzendes Foto des Präsidenten Putin gesellte sich hier zu ihnen. Der Rahmen aus der Gegenwart, vermutlich in Vinyl, passte nicht zu den Anderen. Ein Fernseher, nahe an der Decke, in einer Ecke, übertrug ein Fussballspiel. Die lange Wand im Hintergrund zierten sich unzählige bunte Wollschals der unterschiedlichsten Kicker-Klubs weltweit. Am anderen Ende, eine kleine Theke die zum aufnehmen und abgeben der Bestellungen diente. Die eher grantige Bedienung passte zum Ambiente wie die Faust aufs Auge. Die Tische aus Formica wurden immer wieder feucht abgewischt und die Plastikblumen, samt Salzstreuer und Papierservietten zurechtgerückt, sobald sich einer wieder von Gästen frei machte. Diese waren Studenten, Arbeitslose, Rentner. Trinker, Musiker und Intellektuelle. Gemeinsam hatten sie aber alle, ausser der Sprache, einen Hang zum Altbekannten, zur Einfachheit. Und in meinen Augen waren allesamt Neugierig, Offen und sogar Hilfsbereit. Spätestens als ich zu verstehen gab, dass ich aus der Speisekarte nichts verstand, und diese Kopf über in den Händen hielt, machte ich die erste Bekanntschaft, welche mir auf englisch ihre Hilfe bot. Dass sich ein Argentinier hierher, so weit entfernt vom Mainstream geirrt hätte propagierte sich wie ein Lauffeuer und sorgte kurz für Furore. Ich wurde von jedem Zweiten interviewt und schliesslich, von zwei jungen Mädels für den Folgetag eingeladen. Sie würden mir gerne ein paar Highlights der Stadt zeigen wollen. Solche wo Du als „Tourist“ niemals draufkommen würdest sagte eine von Beiden. Gesagt getan. Wir trafen uns am Folgetag, mit Lubba und Sascha, beide sehr bewandert, intelligent und neugierig. Wir ergänzten uns sehr gut und führten wirklich nette und aufschlussreiche Gespräche. Beide studierten Arabistik an der Uni und währen eine „erst“ 18 Jahre alt war, war die Andere schon 19. Ich weiss nicht wann ich in Europa von einer fremden Frau letztmalig angesprochen würde, schon gar nicht von so einer jungen und mit einer Einladung obendrauf. Das ist Sankt Petersburg wie ich es erlebt habe. Die Tage vergingen schnell und obwohl ich immer wieder eine Ausrede fand um meine geplante Abreise zu verschieben kam schliesslich am 10. Tag der wehmutige Moment des Abschieds.
Russland, auch wenn „nur“ Sankt Petersburg, überraschte mich zutiefst und der Gedanke wieder zurückzukehren lässt mich nicht los.
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